Anonyme Bewerbungsverfahren haben sich in Deutschland noch immer nicht durchgesetzt. Dennoch gibt es für solche Verfahren eine Reihe von Vorteilen. Nicht nur, was die Chance auf tatsächlich höhere Diversität betrifft, sondern auch mit Blick auf passendere Kandidat:innen, sagt anonyfy Mitgründerin Sandra Zemke im Startup Interview.
Was bietet anonyfy?
Hallo Sandra, magst Du Dich und Euer Startup anonyfy bitte kurz vorstellen?
Ja, gerne! Ich bin Sandra Zemke, CEO und Gründerin von anonyfy. Ich habe über 20 Jahre in DAX-Unternehmen gearbeitet, meist im IT-Bereich, und habe dabei auch Führungspositionen bekleidet. Ich habe nicht nur selbst rekrutiert, sondern mich auch oft beworben – kenne also beide Seiten des Recruitings sehr gut und weiß somit, worauf es ankommt.
Die Idee zu anonyfy kam mir, als mir verschiedene Menschen erzählt haben, wie schwierig es sein kann, auch nur ein Interview zu bekommen – aufgrund von Namen, Fotos, Alter, Elternschaft und so weiter. Eine Freundin musste erst auf dem Papier ihren Namen in Müller ändern, um überhaupt eingeladen zu werden.
Auf dem Weg zur Realisierung meiner Idee traf ich dann meinen großartigen Co-Geschäftsführer Peter Löber, der seinerseits über eine beeindruckende operative Geschäftsführungserfahrung im Bereich HR Tech verfügt. So haben wir dann gemeinsam mit anoyfy.jobs eine brandneue Recruiting-Plattform geschaffen, die es in sich hat!
anonyfy ist eine Plattform für anonymes Recruiting – für ein Recruiting ohne unbewusste Vorurteile. Wir verhelfen Unternehmen damit zu mehr besseren Bewerbungen, und helfen ihnen so im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Wir sorgen dafür, dass die perfekten Talente gefunden werden und Talente ihr wahres Potential unverzerrt zeigen können.
Die anonyme Bewerbung – eine alte Idee
Schon seit geraumer Zeit wird die anonyme Bewerbung als Idee für mehr Diversität gehandelt. Warum hat sie sich trotz allem immer noch nicht im großen Stil durchgesetzt?
Genau das war auch die Frage, die ich mir 2021 gestellt habe. Ich kannte das deutsche Pilotprojekt, auch in anderen Ländern hatte es ähnliche Projekte gegeben. Die Ergebnisse waren alle ähnlich: in den ersten Runden war der Prozess durch die Anonymisierung deutlich fairer und diverser – es ist bestätigt worden, dass ein anonymes Bewerbungsverfahren positiv wirkt.
Allerdings war das Verfahren sehr aufwendig, und nicht ausgereift. Es war keine einfache technische Lösung verfügbar. Außerdem lässt eine einfache Anonymisierung noch einige Aspekte außen vor, und genau hier wollen wir mit anonyfy ansetzen. Unsere Anonymisierung ist mehr als nur Foto, Name und Geburtsdatum wegzulassen. Und wir kümmern uns auch um mehr als nur die erste Vorauswahl, es ist ein umfangreich anonymer Prozess.
Verlagerung der Diskriminierung?
Ein häufig genutztes Argument von Skeptikern ist die Vermutung, dass durch ein anonymes Bewerbungsverfahren die Diskriminierung lediglich bis zum Vorstellungsgespräch verschoben würde. Wie siehst Du das?
Da stimme ich nicht ganz zu. Bei einem Verfahren wie unserem weiß die einstellende Person bereits so viel über das Talent, dass der erste Eindruck bereits entscheidend geprägt wurde.
Natürlich müssen die Menschen im Bewerbungsprozess sich weiterhin reflektieren, um nicht im Folgeprozess unbewusst zu diskriminieren, aber ein großer Schritt ist bereits geschafft. Lasst mich das ein bisschen erklären:
Wir haben die Anonymisierung deutlich erweitert. Wir gehen z. B. auch soziokulturelle Faktoren an, indem wir Ex-Arbeitgeber und Ausbildungsstätten kategorisieren. Außerdem haben wir die initiale Bewerbung um Screening-Fragen ergänzt. Hier haben Unternehmen die Möglichkeit, gezielt Kriterien und Motivation anzufragen. Damit ergänzen wir den CV entscheidend. Wir greifen auf wissenschaftlich validierte Fragenkataloge zurück, die wir eigens dafür erstellt haben.
Schlussendlich erweitern wir die anonyme Vorauswahl um ein anonymes Audio-Interview mit Stimmveränderung. Somit decken wir den großen Teil des Recruiting-Prozesses bereits ab. Wenn die Entscheidungsträger im Unternehmen schließlich auf die Personen auf der Shortlist treffen, können sie sich auf den Überraschungsmoment, wer da nun zum Gespräch erscheint, freuen. Denn im Grunde wissen sie schon, dass die Person wirklich gut passt.
Unsere Erfahrung ist, dass Menschen in Unternehmen in den seltensten Fällen wirklich diskriminieren wollen. Somit geben wir ihnen die Werkzeuge, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, ohne Ablenkungen.
Funktionsweise der anonymen Bewerbung
Wie genau funktioniert anonymes Bewerben mit anonyfy?
So einfach ist das: Unternehmen stellen eine Jobanzeige bei anonyfy ein und definieren die Screening-Fragen für Runde 1 und 2. Dabei greifen sie auf unseren wissenschaftlich validierten Fragenkatalog zurück.
Sie schreiben weiterhin die Jobs dort aus, wo sie sie bisher auch ausschreiben: auf ihrer Webseite, auf großen Jobplattformen oder spezialisierten Plattformen. Erst danach kommen wir ins Spiel: Der Link zum Job-Post auf anonyfy wird einfach auf den Jobanzeigen hinterlegt.
Talente landen dann direkt bei anonyfy und können sich anonym bewerben.
Das heißt, sie laden ihren CV hoch, wir anonymisieren ihn, und das Talent beantwortet die Screening-Fragen für die Bewerbung – fertig ist der erste Schritt!
Dann bewerten definierte Personen in den Unternehmen die CVs und Antworten und legen fest, wen sie in der zweiten Runde hören wollen.
In der zweiten Runde sprechen die Talente die Antworten auf die gestellten Fragen ein, und die Unternehmen erhalten neben dem Audio-File auch ein Transskript. Nach der Bewertung dieser Antworten liegt eine Shortlist vor, mit denen das Unternehmen individuelle Gespräche vereinbart. Erst nach diesen Gesprächen kann das Talent die eigenen Daten vollständig freigeben – oder sich dafür entscheiden, eben dies nicht zu tun – die Kontrolle darüber liegt beim Talent!
Dieser anonyme Prozess ist nicht nur für externe Bewerbungsprozesse geeignet, sondern auch super spannend für interne Bewerbungsprozesse in großen Konzernen. Hier liegen aktuell noch viele Perlen in der Belegschaft verborgen, die die normale interne Ausschreibung, aufgrund von erwarteten sozialen Problemen und fehlender Chancengleichheit, nicht erreicht.
Ausschließlich anonyme Bewerbungen
Wie setzen Eure Kund:innen anonyfy ein? Kann es überhaupt eine anonyme Bewerbung neben einer nicht-anonymen Bewerbung innerhalb eines Unternehmens geben?
Es macht keinen Sinn, sowohl anonyme als auch herkömmliche Bewerbungen für dieselbe Stelle zuzulassen – hier wären die anonymen Bewerbungen grundsätzlich im Nachteil. Wir Menschen sind soziale Wesen – wir bauen sofort eine Beziehung auf, wenn wir z.B. ein Foto betrachten, oder lesen, dass jemand beim gleichen Ex-Arbeitgeber war. Bei einem anonymen CV ist das deutlich schwieriger.
Somit raten wir dringend dazu, Stellen zu definieren, für die eben nur der anonyme Prozess möglich ist. Den Unternehmen steht es ja frei, andere Stellen herkömmlich auszuschreiben – aber eben nicht die gleiche.
Diversity in deutschen Unternehmen
Ist der realistische Wunsch nach mehr Diversität bei deutschen Unternehmen wirklich schon angekommen? Oder schwimmen aus Deiner Sicht viele auf der medialen Welle mit Blick auf ihr immer wichtiger werdendes Employer Branding?
Das ist eine gute Frage: wie echt ist der Wille nach mehr Diversität?
Viele Entscheidungsträger in Unternehmen haben offenbar die Studien gelesen, die belegen, dass Diversität zu mehr Innovationskraft und mehr wirtschaftlichem Erfolg führt. Aber haben sie das wirklich verinnerlicht? Ich weiß es nicht. Ein guter Indikator ist doch, ob Unternehmen sich an die anonyme Bewerbung herantrauen: hiermit gäben sie wirklich allen eine faire Chance und laden Diversität explizit ein. Trotzdem fürchten sich Unternehmen offenbar davor. Ich verstehe nicht, warum – vielleicht kann es mir jemand erklären?
Was die Welle angeht – ich sehe sie nicht nur als medial an, ich glaube, sie ist gesellschaftlich. Die Gen Z macht es vor, und viele stimmen zu: ein Job ist ein wichtiger Teil des Lebens, sie möchten dies gern tun, als Menschen gesehen und gut behandelt werden, sonst gehen sie wieder. Insbesondere Menschen mit gefragter Qualifikation haben einen Wertewandel durchlaufen. Wollen Unternehmen diese Menschen ansprechen, müssen sie sich ein bisschen anstrengen, ihre Kultur zu modernisieren. anonyfy ist nur ein kleiner Schritt auf diesem Weg, aber ein wichtiger.
Wie sich Anonyfy weiterentwickelt
Welche Weiterentwicklungen habt Ihr für anonyfy geplant?
Wir haben unsere Plattform gerade erst gelauncht, haben also noch viel vor. Ich habe noch so viele Ideen, die wir noch gar nicht realisieren konnten. Wir möchten zum Beispiel das Leben von Recruiter:innen und Managern noch entscheidend vereinfachen, indem wir passende Interview-Fragen zum Jobprofil vorschlagen. Zudem sollen Hinweise eingeblendet werden, wenn Antworten von Talenten zu Verzerrung führen könnten.
Außerdem wollen wir unseren Anonymisierungs-Algorithmus kontinuierlich weiterentwickeln.
Für all das wird KI zum Einsatz kommen, allerdings wollen wir explizit keine Vorauswahl durch KI durchführen. Die aktuellen Erfahrungen sind laut unseren Umfragen einfach noch zu schlecht, die KI noch zu anfällig für unfaire Entscheidungen. Talente wollen zudem nicht durch KI ein- oder aussortiert werden. Da wir die Bedürfnisse beider Seiten bestmöglich erfüllen wollen, werden wir darauf bewusst verzichten. Wir glauben, dass unser Prozess die Entscheidung so gut unterstützt, dass KI hier gar nicht nötig ist.
Vielen Dank für Deine Antworten, Sandra. Für Euer Startup anonyfy drücke ich Euch alle Daumen!
>> Ein weiterer Artikel von Sandra Zemke zum Thema Anonyme Bewerbung auf unserem HR-Portal.
Über die Interviewte
Sandra Zemke ist Gründerin und CEO von anonyfy. Sie ist außerdem Mitglied bei FidAR – Frauen in die Aufsichtsräte e.V. und engagiert sich dort aktiv in der bayrischen Politik für mehr Gleichberechtigung.
Sandra möchte mit anonyfy neue Regeln für besseres Recruiting zu etablieren und hat die Vision, das Bewerbungsfoto endlich zu verbannen, und die anonyme Bewerbung zum weltweiten Standard zu machen.