Soziokratie hat in der New Work Szene ein “verstaubtes Image”. Dabei ist sie eine hochmoderne, sehr individuell anpassbare systemische Organisationsform, die große Flexibilität im Agieren ermöglicht. Viele andere Modelle bauen auf der Soziokratie auf, nennen sie aber oft gar nicht als Inspirationsquelle, zum Beispiel Kollegiale Beratung, Holakratie, Soziokratie 2.0, Soziokratie 3.0. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf die Praxis, meinen die Gastautoren Luise Ogrisek und Dr. Andreas Artlich.
Organisationen führen die Soziokratische Kreisorganisationsmethode (SKM) ein
Die soziokratischen Basisprinzipien haben, wenn auch zum Teil in abgewandelter Form, in alle der genannten Modelle Eingang gefunden. Mittlerweile haben sich eine ganze Reihe von Organisationen im deutschsprachigen Raum für die Einführung der Soziokratischen Kreisorganisationsmethode (SKM) entschieden. Wir haben mit Vertreter:innen solcher Organisationen gesprochen, die die SKM teilweise schon seit Jahren erfolgreich praktizieren. Und wir haben den Übergang von linearen zu soziokratischen Strukturen begleitet
Trotz der Vielfalt der Branchen, in denen diese Organisationen angesiedelt sind, sind ihre Beobachtungen über die Wirkung von Soziokratie gut vergleichbar. In diesem Artikel wollen wir versuchen, die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.
Im Einzelnen betrachten wir folgende Organisationen:
- Klinik für Kinder und Jugendliche der Oberschwabenklinik (OSK)
- Österreichischer Gebärdensprach-Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen Verband (ÖGSDV)
- Haus Selun für Sozialrehabilitation, Wohnen und Arbeiten für Menschen mit einer Hirnverletzung und
- System Industrie Electronic GmbH (S.I.E).
Warum kommen Menschen und Organisationen zur Soziokratie?
Arbeits- und Entscheidungsprozesse in unseren Organisationen sind heute aufgrund der Arbeitsteiligkeit und Multiprofessionalität komplex. Viele Menschen spüren, dass traditionelle lineare Hierarchien nicht mehr zu guten, tragfähigen Entscheidungen führen. Sie suchen nach Alternativen, die Partizipation und Mitverantwortung ermöglichen.
Alle thematisieren einen gewissen Leidensdruck, der sie den hohen Aufwand einer Soziokratie-Implementierung auf sich nehmen lässt. Sie versprechen sich davon mehr Klarheit in der Zusammenarbeit, eine Änderung des Kommunikationsklimas, stärkeres Commitment der Mitarbeitenden, mehr Erfolg bei der Lösung besonders schwieriger Aufgabenstellungen und einen Abbau von Reibungsverlusten innerhalb der Organisation. Abhängig von der jeweiligen Branche auch eine Zunahme der Produktivität.
In einem kontinuierlichen Veränderungsprozess haben alle von uns befragten Organisationen diese Ziele auch erreicht.
Was ändert sich durch die Nutzung der soziokratischen Kreisorganisationsmethode (SKM)?
Die Arbeit in einer soziokratischen Organisation transformiert die Menschen. Die Basisprinzipien der Soziokratie stellen sicher, dass Kommunikation auf Augenhöhe gelingt und die Menschen in ihren Kreisen Mitverantwortung für das gemeinsame Angebot übernehmen. Durch kontinuierliche Arbeit an der systemischen Haltung gelingt es, die Mitarbeitenden in die Arbeit der semiautonomen Kreise einzubinden und den Informationsfluss innerhalb der Organisation zu verbessern.
Die Identifikation mit der Organisation und den gemeinsamen Zielen wird durch den höheren Beteiligungsgrad aller Mitarbeitenden spürbar gestärkt. Die Qualität der Zusammenarbeit in den Kreisen steigt messbar an. „Nun ist der Turbo eingeschaltet“, bringt es Markus Dillinger, General Manager der S.I.E GmbH, auf den Punkt, und berichtet von einem 50%igen Beschleunigung des Fertigungsprozesses in seinem Unternehmen.
Welche Auswirkungen hat die Soziokratie auf die Motivation der Mitarbeitenden?
Die Mitarbeitenden kennen sich mit den unternehmensinternen Prozessen signifikant besser aus und übernehmen – aufgrund der gleichwertigen Möglichkeit der Einflussnahme bei Entscheidungen, die den eigenen Arbeitsbereich betreffen – bereitwillig Mitverantwortung für den gemeinsamen Erfolg. Sie erlernen in einem zu Beginn durchaus ressourcenintensiven Schulungsprozess eine neue Haltung zu ihrer persönlichen Aufgabe in der Organisation und zur Zusammenarbeit im Team. Dieser Lernprozess kann im Verlauf durch ein internes Team von geschulten SKM Trainerinnen und Trainern unterstützt werden und wird dadurch nachhaltig.
„Die Verbundenheit mit der gemeinsamen Aufgabe und die Bereitschaft, sich mit seinen individuellen Fähigkeiten einzubringen, verbessern sich eindrucksvoll“, berichtet Andreas Artlich, Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche in Ravensburg. Führungspersonen fühlen sich durch die Arbeit in Kreisen in ihrer Verantwortung unterstützt und entlastet.
Wichtig erscheint an dieser Stelle ein Hinweis auf mögliche „Nebenwirkungen“ der SKM und des Zuwachses an Klarheit: ein kleiner Teil der Mitarbeitenden erkennt auf dem Implementierungsweg, dass sie sich schwer tun mit einem Mehr an Verantwortung und dass sie möglicherweise nicht in der neuen, jetzt soziokratischen Organisation arbeiten wollen. Sie werden die Organisation verlassen.
Welches Feedback kommt aus dem Recruiting und von Kunden?
In einer ersten Phase nach Einführung der Soziokratie nehmen zunächst die positiven Feedbacks bezüglich des Betriebsklimas zu: Bewerberinnen und Bewerber bemerken einen wohltuend anderen Kommunikationsstil. Ohne dass sie über die geltenden Regeln und Prinzipien der Soziokratie schon Bescheid zu wissen. „Da wir die SKM in der Stellenausschreibung erwähnen, erleben wir zunehmend, dass sich Interessierte gerade deswegen bei uns bewerben.“, berichtet Brigitta Buomberger, Leiterin des Haus Selun.
Kundeninnen und Kunden loben die gute interne Abstimmung und die hochkompetente Bearbeitung ihrer Anliegen. In einem nächsten Entwicklungsschritt kann die Außenwelt der Organisation strukturiert in die Weiterentwicklung des Angebots einbezogen werden. Sei es in Form eines Top-Kreises, als „round table“ mit Kundengruppen (OSK) oder über „customer focus Teams“ wie bei der S.I.E.
Sind die Erfahrungen mit Soziokratie übertragbar auf andere Branchen bzw. auf kleinere Unternehmen?
Die Erfahrungen aus unseren Gesprächen lassen die SKM als universell einsetzbares Betriebssystem für ein neues Miteinander in der Arbeitswelt erscheinen. Diese Beobachtung macht Mut für eine erfolgreiche Umsetzung auch in anderen Branchen und in kleineren Unternehmen. Dabei ist die Implementierung zunächst mit einem erhöhten Zeit- und Ressourcenaufwand verbunden. Dieser geht im Verlauf, wenn Vertrauen in die Arbeit der Kreise gewachsen ist, wieder zurück.
Dabei scheint es wenig zielführend, auf professionelle Begleitung zu verzichten und nur Teilelemente der SKM umzusetzen, gewissermaßen in Form einer „SKM light“. Markus Dillinger sagt dazu: „Große Organisationen müssen es komplett richtig machen.“.
Und Brigitta Buomberger fasst das Ergebnis eines solchen Prozesses wie folgt zusammen: „Mit dem konsequenten Blick auf das gemeinsame Ziel und einer neuen Haltung des „WIR“ finden wir Lösungen für das Gesamtteam – eine wunderbare Entwicklung.“
Podcast-Folge Klartext HR zu Soziokratie in der Praxis
Hören Sie in dieser Folge Klartext HR Chefarzt Dr. Andreas Artlich im Gespräch mit mir zu seinen Erfahrungen mit der Soziokratie im Krankenhaus.