Das sogenannte Over-Coaching aufgrund einer Vielzahl möglicher Coaching-Angeboten nimmt stetig zu. Natürlich wollen Unternehmen kontinuierlich wachsen und müssen Mitarbeitende für anspruchsvolle Aufgaben qualifizieren. Allerdings kann das auch funktionieren, ohne in Under-Coaching und vor allem Over-Coaching zu verfallen, meint Elton Schwerzel, Managing Director DACH bei Talentsoft.
Unpassendes Kompetenzmanagement durch HR
Kompetenzen müssen sich fortwährend an extrem volatile Marktbedingungen anpassen. Dadurch entsteht in Unternehmen ein hoher Bedarf, das Erlernen von Skills, Fähigkeiten und Talenten massiv voranzutreiben. Unternehmen neigen nun dazu, Mitarbeitende in möglichst kurzer Zeit mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten.
Doch Coaching-Angebot gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Bei der Coaching-Auswahl kommt es daher immer wieder zu Fehlentscheidungen. Eine Folge daraus ist oft unendliches Over-Coaching. Obwohl viele Personalabteilungen die Herausbildung kritischer Kompetenzen als eine ihrer Kernaufgaben verstehen, ist sowohl Under- als auch Over-Coaching in vielen Betrieben nichts Ungewöhnliches. Das liegt in der Regel an einem vernachlässigten, fahrlässig betriebenen oder gar unpassenden Kompetenzmanagement.
Die Over-Coaching-Spirale setzt sich in Gang
Fakt ist, dass eine große Mehrheit der Unternehmen – laut Branchenanalyst Fosway 65%, nach McKinsey sogar 87% – davon überzeugt ist, dass in ihrer Organisation Kompetenzlücken existieren.
Aber gerade einmal 7% der Unternehmen verfolgen tatsächlich einen konkreten Managamenent-Ansatz, der Kompetenz-Defizite bei Mitarbeitenden optimal eliminiert. Anstatt Mitarbeitende möglichst punktgenau weiterzubilden, werden also Coachings gebucht, die mitunter an Kompetenzdefiziten konsequent „vorbei-coachen“. Daraus entsteht wiederum neuer Bedarf an zusätzlichen Coachings.
Das heißt: Die Over-Coaching-Spirale setzt sich in Gang. Mit den folgenden drei Schritten bewahren Sie Mitarbeitende hingegen vor einer Over-Coaching-Eskalation.
Drei Schritte gegen den Over-Coaching Wahnsinn
1. Nachhaltige Lern- und konstruktive Fehlerkultur
Die erste Ursache für Overcoaching liegt zunächst oft in einer nicht vorhandenen wertebasierten Lernkultur. Es gibt eine Vielzahl externer Coaches, die Unternehmen mit zweifellos guten Inhalten in Training und Personalentwicklung unterstützen wollen. Aber diese von Haus aus eindimensional angelegte Art des Lernens birgt ein hohes Frustrationspotenzial in sich.
Der Belegschaft selbst hilft das nicht wirklich weiter. Was an dieser Stelle fehlt, sind wechselseitige, gemeinsam erzielte Lernerfolge und -erfahrungen, in denen Mitarbeitende untereinander oder über Hierarchie-Ebenen hinweg voneinander profitieren und das Gelernte teilen.
Die Implementierung einer wertebasierten Lernkultur ist eine Management-Aufgabe. Sie manifestiert sich einerseits etwa in einem Wertekatalog, in Grundsätzen oder in Bylaws. Andererseits misst sie sich anhand konkreter Handlungen und Haltungen der Mitarbeitenden.
Konstruktive Fehlerkultur und Vertrauen
Führungskräfte sollten insofern mit gutem Beispiel voran gehen, innovatives Denken fördern und Mitarbeitenden ein sicheres Lern-Umfeld bieten. Diese Maßnahmen begründen nicht nur eine unternehmensweite nachhaltige Lern-, sondern auch eine konstruktive Fehlerkultur.
Auf dieser Basis entsteht Vertrauen. Es setzt einen Rahmen, in dem Fehler tatsächlich begangen werden können, ja sogar erwünscht sind. Um anschließend aus deren Korrektur einen Lerneffekt zu erzielen.
Für Unternehmen entscheidend: Konstruktive Fehler repräsentieren daher immer auch eine Quelle der Innovation. Sie sind elementar für die Unternehmensentwicklung. Wie sich wiederum konstruktive Fehler definieren, das legt der Wertkatalog zur Lern- und Fehlerkultur fest. Wichtig hierbei: Insbesondere Führungskräfte müssen bereit sein, eigene Fehler einzugestehen und gleichzeitig ein Höchstmaß an Bereitschaft signalisieren, aus diesen lernen zu wollen.
2. Anwendung systematischer Methoden
Mit der alleinigen Installation einer wertebasierten Lern- und Fehlerkultur lässt sich Over-Coaching aber immer noch nicht vollständig vermeiden. Hierzu greift das Kompetenzmanagement auf unterschiedliche Methoden zurück, um Kompetenzlücken systematisch zu identifizieren und diese in der Folge zu schließen. Dazu zählen insbesondere das Kompetenz-Audit und die Kompetenzlückenanalyse.
Aus der Kombination beider Methoden lässt sich ein Soll-Ist-Vergleich modellieren. Er erfasst einerseits die aktuellen Fähigkeiten aller Mitarbeitenden in ihrer Gesamtheit (Kompetenz-Audit) und gleicht diese mit jenen Fähigkeiten ab, die Unternehmen in der Zukunft benötigen, um Ziele zu erreichen.
Der Abgleich identifiziert schließlich Kompetenzlücken in Bereichen, Abteilungen, in spezifischen Projekten oder Prozessen. Daraus ermittelt die Analyse ein Anforderungsprofil.
Es dient gleichzeitig als detaillierte Handlungsempfehlung für spezifische Re- oder Upskilling-Maßnahmen und beinhaltet Instrumente wie zum Beispiel Schulungen, Coachings oder Nachbesetzungen sowie Aus- und Weiterbildungsmaßahmen, um Kompetenzlücken zu schließen.
Durch diese exakte Methodik kann ein Over-Coaching konsequent ausgeschlossen werden.
3. Intelligente Lösungen sind gefragt
Diese Methoden verursachen einen extremen Arbeitsaufwand in Personalabteilungen. Intelligenten Lösungen gewährleisten dagegen eine Automatisierung, die HR-Mitarbeitenden viel Zeit und Kosten spart. Um Ist-Kompetenzen vollautomatisch mit den erwünschten Soll-Kompetenzen zu vergleichen, ist es erforderlich, individuelle Mitarbeiterinformationen und Mitarbeiterdaten möglichst vollständig zu erfassen. Dazu gehören zum Beispiel bisherige Arbeitsstationen, Ausbildungserfahrungen, Arbeits- und Leistungsnachweise sowie bereits erworbene Kompetenzen, Zertifikate und persönliche Ziele.
Analysen, um qualitativ hochwertige Schlussfolgerungen zu ziehen
Moderne HR-Lösungen gehen nun aber einen Schritt weiter. Sie unterstützen Unternehmen und deren Belegschaft in der Folge dabei, qualitativ hochwertige Schlussfolgerungen aus den gesammelten Daten zu ziehen. Dabei erfassen sie nicht nur relevante Personaldaten und ermitteln daraus mögliche Kompetenzlücken. Sie messen vielmehr die konkreten Auswirkungen von Weiterbildungsentscheidungen, antizipieren zukünftige Herausforderungen und liefern datengetriebene Entscheidungsgrundlagen zur Schließung von Kompetenzlücken. Mitarbeitende profitieren dadurch beispielsweise von einer erhöhten Agilität bei der Erstellung von Maßnahmen und Aktionsplänen.
Ganz wesentlich ist hierbei die Validierung und Messung von bereits vorhandenen Kompetenzen. Sie bleiben für viele HR-Software-Lösungen eine Herausforderung. Denn: Qualitative Kompetenzkriterien lassen sich ohnehin nur sehr schwer nachvollziehen. Sie lassen sich lediglich aus quantitativen Kategorien ableiten. Ihre Aussagekraft ist deshalb begrenzt. So liefern Zertifikate zum Beispiel nur einen Nachweis, dass Kompetenzen erworben wurden. Doch wie lässt sich bewerten, inwieweit Mitarbeitende erlernte Kompetenzen auch produktiv nutzen?
Erworbene Fähigkeiten in einen leistungsbezogenen Kontext setzen
Intelligente HR-Software setzt bereits erworbene Fähigkeiten dagegen in einen leistungsbezogenen Kontext, indem Sie Mitarbeitende mit individuellen Lernpfaden dabei unterstützt, auf Basis bereits erlernter Kompetenzen interne Karriere-Chancen in Form konkreter Qualifikationsanforderungen zu ergreifen.
Professionelle Lernplattformen ermutigen Mitarbeitende sogar dazu, Lernprozesse in die eigenen Hände zu nehmen. Verschiedenste Lernstrategien passen sich dabei an die Workflows des Unternehmens als auch die des Mitarbeitenden an.
Um konkrete Kompetenzlücken zu schließen bzw. Lernanforderungen und -bedürfnisse zu erfüllen, können sogar Inhalte von Mitarbeitenden (User-Generated Content) erstellt werden, von dem auch Kolleginnen und Kollegen profitieren. Ganz im Sinne einer nachhaltigen Lernkultur.
Fazit: Over-Coaching-Eskalation gestoppt
Eine nachhaltige Lernkultur sowie eine konstruktive Fehlerkultur, Kompetenz-Audit gepaart mit Kompetenzlücken-Analyse sowie intelligenten Software-Tools – dieses Triumvirat des Kompetenzmanagements versetzt Unternehmen und deren Mitarbeitende in die Lage, effiziente Maßnahmen zu ergreifen und ein Over-Coaching systematisch auszuschließen.
Ein so konzipiertes Kompetenzmanagement läuft dabei nicht Gefahr, in die Falle der Over-Coaching-Spirale zu tappen. Es gibt Menschen, Belegschaft, HR-Abteilungen oder Unternehmen Raum, Vertrauen und Zeit, konkrete Anforderungsprofile zu entwickeln und Kompetenzlücken punktgenau und nachhaltig zu schließen.
Unter diesen Voraussetzungen können auch externe Coachings, die eben nicht dem Selbstzweck dienen, eine Bereicherung für Unternehmen und deren Belegschaften sein. Auf diese Weise kann eine extrem kostspielige Over-Coaching-Eskalation gestoppt werden. Und Mitarbeitende sind für die Karriere-Chancen und Herausforderungen der Zukunft optimal gewappnet.