Hierarchie: Gut, böse oder einfach nur Werkzeug? Gastartikel von Wojtek Gorecki

Hierarchie – Inbegriff des Bösen oder absichtsloses Werkzeug?

Hierarchie hat sich zu einem schwammigen und umstrittenen Begriff entwickelt. Eine differenzierte Betrachtung und pragmatische Definition helfen, passende und moderne Organisationsstrukturen zu finden. Eine Lanze für das Thema bricht Wojtek Gorecki in seinem Beitrag.

Hierarchie ist nicht der Antichrist

Ich habe vor einigen Wochen einen Post zum Thema Hierarchie bei LinkedIn abgesetzt, der viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Die Kernaussage des Posts ist dieser Satz:

„Hierarchie ist nicht der Antichrist.
Es ist eine uralte soziale Technologie, um Komplexität handhabbar zu machen.“

Die Bandbreite an Reaktionen war groß und lässt darauf schließen, dass Hierarchie ein schwammiger und umstrittener Begriff ist. In diesem Artikel versuche ich die Schwierigkeiten mit diesem Begriff aufzuzeigen und biete meine eigene und pragmatische Definition von Hierarchie an.

Was hat Hierarchie mit Komplexität zu tun?

Komplexität kann unter anderem verstanden werden als das Maß der Unvorhersehbarkeit von Ereignissen. Wusste Steve Jobs, wie die Kunden auf das erste iPhone reagieren würden? Nein, hochkomplex. Wissen Sie was passiert, wenn Sie Ihren Laptop einschalten? Ja, nicht besonders komplex.

Wenn eine große Menschengruppe also Dinge tut, die nicht vorhersagbar und planbar sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass Sie mit dieser Gruppe zielgerichtet eine gemeinsame Leistung erbringen. Das bedeutet, dass das Ziel von Führung und Hierarchie auch beschrieben werden kann als die Steigerung von Vorhersagbarkeit und Planbarkeit des Verhaltens von großen Gruppen. Es geht also um Reduktion von Komplexität durch Organisationsstrukturen.

Eine kurze Geschichte der Führung und Hierarchie

Will eine Gruppe von Menschen ein gemeinsames Ziel erreichen, so muss sie sich auf irgendeine Art und Weise organisieren. Es braucht einen sozialen Mechanismus, der

  • die gesammelte Leitung der Individuen auf einige wenige Punkte fokussiert.
  • Blockaden, die durch Unsicherheiten und widersprüchliche Situationen entstehen, auflöst.
  • Transaktionskosten minimiert, um effizient zu sein.

Der Kern dieses Mechanismus, egal ob bei Führung oder Hierarchie, ist die Entscheidung. Es braucht Entscheidungen, die von der gesamten Gruppe akzeptiert und umgesetzt werden.

Je mehr Menschen an einer Entscheidung beteiligt sind, umso mehr Kommunikation ist nötig um diese zu treffen. Je höher diese Transaktionskosten, umso langsamer ist die Organisation, und umso höher ist der Reibungsverlust.

Kommen wir nun zur Geschichte.

Sozio-historische Entwicklung

Bevor die Hierarchie als solche überhaupt erfunden war, gab es nur Führung ohne explizite Strukturen. Wir können also sagen, die Vorstufe von Hierarchie ist das, was heute oft als Leadership bezeichnet wird. Es ist die auf Vertrauen basierende und sozial legitimierte Führung, die entsteht, wenn mehrere Menschen einer Person die Gefolgschaft schenken. Ein soziales Phänomen, das beobachtet, aber nicht gezielt und kausal hergestellt werden kann.

Anders gesagt, steckt man eine Gruppe von Individuen in einen Raum und stellt sie vor ein gemeinsames Problem, so wird man beobachten, wie Führung durch Gefolgschaft entsteht. Auch ohne, dass es irgendwer beabsichtigt. Wir Menschen können nicht anders.

Je mehr Menschen eine Gruppe umfasst, umso komplexer wird sie. Der Grund für die steigende Komplexität ist unter anderem eine steigende Anzahl der Beziehungen in der Gruppe. So entsteht ein natürlicher Flaschenhals.

Für das Phänomen Leadership braucht es Vertrauen. Die Zeit, die nötig ist, um zu allen Personen aus der gesamten Gruppe eine Vertrauen aufbauende Beziehung zu pflegen, reicht ab einer gewissen Gruppengröße nicht mehr aus.

Die alten Ägypter konnten durch die Erfindung der Schrift eine sehr leistungsfähige Struktur zur Koordination von großen Gruppen entwickeln. Eine pyramidale Verteilung der Entscheidungsmacht, in der die Menschen oben die Entscheidungen treffen, und die Menschen unten sie umsetzen. Hierarchie ermöglicht es durch explizite formale Macht, auch in sehr großen Menschengruppen Entscheidungen zu treffen und handlungsfähig und zielgerichtet zu bleiben.

Um Hierarchie differenziert betrachten zu können, sollten wir unterscheiden zwischen sozial legitimierte Führung und der durch formale Macht legitimierten Steuerung. Wir sprechen daher in Hierarchien eher von Steuerung als von Führung.

Meine persönliche Definition von Hierarchie

Und damit kommen wir auch zu meiner persönlichen Definition von Hierarchie.

Hierarchie ist eine explizite und in der Organisation akzeptierte Struktur zur Verteilung der Entscheidungsmacht auf einzelne Individuen oder kleine Untergruppen mit dem Zweck die Gesamtleistung zu bündeln und auf ein bestimmtes Ziel zu lenken.

Ist Hierarchie böse?

Es gab viele Kommentare auf meinen LinkedIn Post von Menschen, die Hierarchie ablehnen und sie gerne abschaffen möchten. Meinem Verständnis von Hierarchie nach, ist das keine gute Idee, denn ohne die Verteilung von Entscheidungsmacht sind wir in großen Gruppen nicht mehr handlungsfähig.

Aber warum erleben wir solch einen Anti-Hierarchie-Trend? Eine schlüssige Erklärung liefert Spiral Dynamics, ein Entwicklungsmodell für menschliche Weltanschauungen.

Das Spiral Dynamics Modell

Menschen und damit auch die gesamte Gesellschaft als soziales System sind keine statischen Gebilde. Sie befinden sich in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung. Genau diese Entwicklung wurde von Don Beck und Clare Graves untersucht und in einem Stufenmodell beschrieben.

  1. Beige: Archaisch, Instinkt-basiert
  2. Purpur: Magisch, animistisch
  3. Rot: Macht, Ich-Emergenz und Impulsivität
  4. Blau: Regeln, Gesetze und Strukturen
  5. Orange: Analysieren und Planen
  6. Grün: Kooperation, Gemeinschaftsgefühl und Konsens
  7. Gelb: Perspektivenvielfalt und Sinnvermittlung
  8. Türkis: holistisches Sein und Handeln
  9. Koralle: integral-holistisch

Diese farblich kodierten Stufen beschreiben eine typische Entwicklung des Menschen und seiner grundlegenden Haltung. Gerade die grüne Stufe zeichnet sich durch ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl und eine starke Ablehnung gegen jede Form von Hierarchie aus.

Die sich entwickelnde Gesellschaft rollt wie eine Welle durch diese Stufen. Da der Großteil der Bevölkerung bei dieser Stufe noch nicht angekommen ist, ist davon auszugehen, dass in Zukunft noch mehr Menschen diese Haltung annehmen werden. Daher meine Prognose: Der Wunsch nach hierarchiefreien Organisationen bleibt ein Trend.

Eins dürfen wir nicht übersehen. Hierarchie als solche ist weder gut noch schlecht, genau wie eine Säge oder ein Hammer. Es ist eine soziale Technologie – ich könnte auch sagen ein strukturelles Muster – für Organisationen, die wir mit einer bestimmten Absicht einsetzen können oder nicht.

Zentral vs. dezentral: eine nützliche Unterscheidung

Nachdem wir geklärt haben, warum die strikte Ablehnung von Hierarchie keine Lösung für unsere Probleme ist, schauen wir uns eine nützliche und pragmatische Unterscheidung an, die uns bei Entscheidungen zwischen Organisationsstrukturen hilft.

Anstatt zwischen klassischer Hierarchie, flacher Hierarchie oder keiner Hierarchie zu unterscheiden, können wir besser über zentrale und dezentrale Steuerung sprechen.

Zentrale Steuerung

Bei zentraler Steuerung werden wenige Menschen in der Organisation mit viel Entscheidungsmacht ausgestattet. So sind klassisch tayloristische Unternehmen aufgebaut.

Dezentrale Steuerung

Bei dezentraler Steuerung wird die Entscheidungsmacht auf deutlich mehr Menschen in der Organisation aufgeteilt. Dabei wird die Macht beziehungsweise Verantwortung kleinteiliger und differenzierter als bei der klassischen Variante aufgeteilt. Beispiele für eine dezentrale Steuerung sind rollenbasierte Frameworks wie Scrum, Holacracy oder Sociocracy 3.0.

Wenn die Wertschöpfung auf der Effizienz und auf Wissen basiert – zum Beispiel ein produzierendes Unternehmen in einem trägen Markt – dann kann zentrale Steuerung die Transaktionskosten minimieren und so für hohe Effizienz sorgen. Das Ergebnis ist ein gut abgestimmter Apparat, in dem alle Zahnräder perfekt ineinandergreifen. Das senkt den Produktpreis, freut den Kunden und sorgt am Ende für ein gesundes und erfolgreiches Unternehmen.

Eine dezentrale Steuerung, die sich schnell an wechselnde Anforderungen und Bedingungen des Marktes anpasst, kann gleichzeitig für Dynamik und Stabilität in der Organisation sorgen. Dies ist nötig, um mit einem dynamischen Markt umzugehen und gleichzeitig zu wachsen. Gerade Unternehmen, deren Wertschöpfung auf ständiger Innovation und Anpassung basiert, Werbeagenturen oder Start-ups zum Beispiel, profitieren davon.

Die große Herausforderung bei der Unterscheidung zwischen zentral und dezentral ist, dass die Wertschöpfung in Organisationen nicht nur aus Effizienz oder nur aus Innovation und Anpassung besteht. Es ist immer eine individuelle Mischung aus beidem. Erst die Unterscheidung und Lokalisierung dieser beiden Wertschöpfungsstränge im Unternehmen macht eine sinnvolle und individuelle Anpassung der Organisationsstrukturen möglich.

Ist Selbstorganisation frei von Hierarchie?

Selbstorganisierten Unternehmen wird ja nachgesagt, dass sie besonders schnell auf Änderungen der Anforderungen und des Marktes reagieren können. Gerade in Zeiten hoher Komplexität und dynamischen Märkten ist das eine sehr nützliche Eigenschaft.

Aber fangen wir vorne an. Selbstorganisation ist ein weiteres schwammiges Buzzword, das wir uns genauer anschauen sollten. Zurzeit sind diese zwei Definitionen verbreitet.

Definition von Selbstorganisation

Eine Definition von Selbstorganisation ist, dass jeder Mensch in der Organisation strukturelle Veränderungen bewirken kann, wenn keine schwerwiegenden Bedenken geäußert werden. Diese Definition basieren auf den Gedanken der Soziokratie und der Entscheidungsfindung durch den Konsent (und nicht dem deutlich verbreiteteren Konsens).

Diese Organisationsform bedeutet nicht, dass es keine Hierarchie gibt. Soziokratische Unternehmen können durchaus hierarchisch strukturiert sein. Sie unterscheiden sich in erster Linie von klassischen Unternehmen durch ihren Umgang mit Veränderungsimpulsen, die aus dem inneren der Organisation kommen.

Eine weitere Definition von Selbstorganisation

Eine zweite Definition von Selbstorganisation ist, dass die Entscheidungen der impliziten Dynamik der Gruppe – also der sozial legitimierten Führung – überlassen werden. Solche Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie schwach strukturiert sind und die Individuen in solchen Gruppen alle über die gleiche formale Macht verfügen. Große Unterschiede in der formalen Macht der Gruppenmitglieder hindern den Vertrauensaufbau und stehen der natürlichen Kooperation im Weg.

Bei der zweiten Definition können wir tatsächlich sagen, dass sie frei von Hierarchie ist. Eine Einschränkung ist hier allerdings, dass diese Gruppen in ihrer Größe limitiert sind aus oben genannten Gründen.

Die Herausforderungen im Organisationskontext ist es, diese selbstorganisierten Mannschaften in große stark strukturierte Organisationen einzubetten, ohne dass sie ihre natürliche Führungsdynamik verlieren.

Mein Fazit zum Thema Hierarchie

Hierarchie ist weder gut noch böse, ebenso wie ein Hammer oder eine Säge. Es ist ein Werkzeug, dass uns zur Verfügung steht. Mit einem differenzierten Blick und der Unterscheidung zwischen Wertschöpfungsanteilen der Effizienz und der Innovation können kluge Entscheidungen bei der Strukturierung der Organisation getroffen werden.

Wojtek Gorecki

Wojtek Gorecki als Gastautor zum Thema Hierarchie

 

Wojtek Gorecki ist Mitgründer von let’s lead, dem Entwicklungsprogramm für Mensch und Organisation. Als freier Unternehmensberater für moderne Organisationsformen und CEO-Coach begleitet er Gründer und Geschäftsführer in schwierigen Entwicklungsphasen.

Er ist überzeugt, dass wir neue Denkwerkzeuge brauchen, um die Herausforderungen einer immer komplexer werdenden Welt zu meistern.

>> zur Website von let´s lead

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