Müssen wir Führung komplett neu denken?
Es besteht zwar ein gewisser Hype, Führung komplett neu zu denken. Gerade Berater nutzen dieses Feld oft für eine provokante Profilierung. Doch mitgehen muss hier keiner. Führung bleibt dennoch Führung. Führung hatte immer schon die Aufgabe, Ziele über und mit der Interaktion mit Menschen zu erreichen, indem optimal auf Herausforderungen reagiert wird. Das ist heute nicht anders.
Nur haben sich die Herausforderungen verändert. Erfolgreiche Organisationen haben das erkannt und reagieren darauf, um weiter effektiv und wertschöpfend zu sein.
Wie geht agiles Führen?
Agile Führung setzt sich aus zwei Bausteinen zusammen, wie aus neuer Forschung (siehe unten) hervorgeht: Drei Verhaltensweisen digitaler Geschäftsagilität und vier Führungskompetenzen.
Drei erfolgskritische Verhaltensweisen für digitale Geschäftsagilität
Hyperbewusstsein (Hyperawareness)
Agile Organisationen setzen sich das ständige Überwachen des Marktes als top Priorität. Ressourcen werden aufgewendet und Strukturen etabliert, um Hyperbewusstsein umzusetzen. Der Fokus liegt darauf, so gut es geht abzuschätzen, was auf das Unternehmen zukommt. Welche Risiken werden adressiert und welche Chancen müssen ergriffen werden müssen?
Dies geht einher mit Fragestellungen wie
- Mit welchen Herausforderungen haben unsere Kunden zu kämpfen?
- Welche neuen Kundenbedürfnisse könnten sich daraus entwickeln?
- Gibt es Entwicklungen, die zukünftig für sie relevant werden?
- Was machen unsere Mitbewerber?
- Welche Entwicklungen in Technologie, Politik und Umwelt könnten für das Unternehmen relevant werden?
- Was tut sich in anderen Geschäftsfeldern?
Sachkundige Entscheidungsfindung (Informed Decision Making)
Die zweite top Priorität agiler Organisationen ist
datengesteuertes Entscheiden. Hierfür werden Daten erhoben und ausgewertet, auf die das Unternehmen zugreifen kann. Verkaufszahlen, Analysen der Kundenreaktionen. Aber auch Erfahrungen, die Mitarbeitende an den Schnittstellen nach außen machen. Dazu werden ebenfalls externe Datenquellen gesucht und genutzt.
Die Datenaufbereitung erfolgt in Echtzeit. Sie wird allen zugänglich gemacht, damit auf jeder Ebene datengestützte Entscheidungen getroffen werden können.
Schnelles Handeln (Fast Execution)
Die dritte top Priorität, die agile Organisationen gesetzt haben, ist die schnelle Umsetzung. Schnell reagieren und schnell liefern ist wichtiger, als detaillierte Pläne zu schmieden und perfekte Lösungen zu präsentieren. Neben dem Abbau von Bürokratie und dem Delegieren von Entscheidungen, um Geschwindigkeit zu ermöglichen, wird iterativ und inkrementell gearbeitet.
Diese drei Verhaltensweisen haben sich als essentiell im Überlebenskampf von Organisationen ist stark
disruptierten und volatilen Märkten erwiesen. Sie setzen den Fokus. Um zu einer agilen Führungskraft zu werden wird dieser Fokus durch vier Kompetenzen ergänzt.
Vier Kompetenzen – das HAVE-Modell
Bescheidenheit (Humility)
Die Führungskraft als Experte ist ein Bild, das
schon länger der Vergangenheit angehört. Herausforderungen sind komplex und erfordern nicht nur interdisziplinäre Herangehensweisen, sondern auch jede Information, die gesammelt werden kann und möglichst viele Perspektiven, die eingebracht werden können. Dies braucht eine inklusive Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Erfolgreiche Führungskräfte haben längst gelernt, dass sie nicht alle Antworten haben müssen. Stattdessen müssen sie umso besser Fragen stellen und zuhören können. Hierzu gehört auch, die Grenzen des eigenen Wissens einzugestehen und nach Feedback zu fragen.
Anpassungsfähigkeit (Adaptability)
Erfolgreiche Führungskräfte lassen sich nicht daran messen, ob ihre früheren Entscheidungen sich als korrekt erwiesen haben, sie ihre Pläne erfüllen und Dinge durchziehen. Ihr Können zeigen sie darin, Veränderungsbedarf schnell zu erkennen und entsprechende Anpassungen vornehmen. Sie ändern ihre Meinung und korrigieren den Kurs. Flexibilität geht dabei über Stabilität.
Visionär sein (Visionary)
Die erfolgreichen Organisationen haben gelernt, wie kraftvoll eine Vision ist. Entsprechend bedeutet Führung auch immer das Entwickeln und Hochhalten einer starken Vision. Mitarbeitende werden inspiriert, langfristig zu denken und kreativ zu werden, im Verfolgen der Vision. Die Vision wird in die Organisation getragen und ist Teil der Gespräche und Meetings.
Engagiertheit (Engagement)
Um das Wissen und all die Informationen, die in der Organisation kursieren, nutzbar zu machen und das kollektive kreative Potenzial zu entfalten, muss Führung Brücken bauen, vernetzen, zusammenbringen. Agile Führungskräfte sind nah an ihren Teams, greifen Impulse auf, initiieren Austausch und Zusammenarbeit. Es ist Führungsaufgabe, dafür zu sorgen, dass Informationen fließen und aufgegriffen werden sowie Ideen verknüpft werden.
Erfolgreiche Führungskräfte sind heute stark vernetzt und in ständigem Kontakt zu Kunden, Stakeholdern, in Interessensgruppen außerhalb der Organisation und mit der Basis.
Es sind die Organisationen, die sich trotz oder durch Disruption behaupten. Organisationen, die mit kreativen Lösungen sogar die Pandemie zur Chance machen, um agil geführt zu werden.
Doch genau in diesen Organisationen hört Agilität nicht bei der Führung auf. Im Gegenteil, sie setzt auf breites Empowerment, indem die Rahmenbedingungen für
Agilität in der Breite geschaffen werden. Wie das gelingen kann, zeigt das TEC-Modell, das diesen Code in der Organisationskultur agiler Organisationen entschlüsselt. Die Erkenntnisse flossen ein in das Buch
„Der Code agiler Organisationen“.
Agile Führung – die Forschung
Eine globale Studie liefert ein verhaltensbasiertes Kompetenzmodell für agile Führung. Es zeigt, dass sich nicht alles ändert im Anforderungsprofil von Führung, doch eine neue Richtung ist klar erkennbar. Und lernbar
. Im Juni 2020 veröffentlichte Forbes einen Artikel zu vier agilen Führungskompetenzen, die durch die Krise helfen sollen. Forschung zu Führung in der digitalen Zeit zeigt ebenfalls, dass viele klassische Führungskompetenzen neuen Kompetenzen weichen.
Hinter dem Artikel steht eine globale Studie des Global Centers for Digital Business Transformation, die von der Business School IMD und der Beratungsfirma metaBeratung in 2017 durchgeführt wurde. Mittlerweile ist das Modell in einigen Konzernen zum Standard in der Führungskräfteentwicklung geworden und weltweit in nahmen haften Quellen wie dem Harvard Business Review 2018 erwähnt worden.
Es wurden im Rahmen der Studie 19 Experteninterviews mit weltweit positionierten
„digital leaders“ geführt und weitere Daten über Fragebögen mit 1.042 Führungskräften erhoben. Anhand der Daten wurde ein Konzept der IMD Business School zu digitaler Geschäftsagilität überprüft und ergänzende Kompetenzen identifiziert.
Im Anschluss wurde das entwickelte Kompetenzmodell im Rahmen einer Testentwicklung durch das Unternehmen Hogan Assessments mittels Job- und Anforderungsanalysen bestätigt. Die Psychologen Dr. Puckett und Dr. Neubauer haben das Kompetenzmodell in ihrem Buch „Agiles Führen“ in konkretes Führungsverhalten übersetzt.