Gastbeitrag zur Eignungsdiagnostik von Philip Winter auf PERSOBLOGGER.DE

Wie Sie Ihre Personalauswahlentscheidungen sofort optimieren können – Praxistipps Recruiting

Bewerbungsratgeber gibt es wie Sand am Meer. Die Zielgruppe der Jobsuchenden ertrinkt nahezu in einer unüberschaubaren Flut an Informationen. Viele davon sind wenig hilfreich und zielführend. Für Personaler umgekehrt gibt es vergleichsweise wenig. Dabei lassen sich sehr schnell Erfolge bei der Optimierung der eigenen Personalauswahlentscheidungen erzielen. Wertvolle Praxistipps – zur Abwechslung mal ohne den Einsatz von Software und Algorithmen – finden Sie gleich hier:

Personalauswahl ist fast überall optimierbar

Dass unsere Auswahlentscheidungen im Recruiting durchaus optimierbar sind, habe ich bereits im Beitrag „Untaugliche Personalauswahlmethoden – Personaler, verlost Eure Jobs!“ ausführlich dargestellt. Darin bin ich auch sehr kritisch mit den bei Personalern im Recruiting vorhandenen Kompetenzen umgegangen. Gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen ist Recruiting nur ein Teilaspekt für die üblicherweise crossfunktional arbeitenden Personalreferenten. Der Aufbau von Expertenwissen in Richtung Personalauswahl ist daher vergleichsweise schwierig.

Die Qualität der Bewerbungen entscheidet

Es mag etwas platt klingen, aber einer der größten Hebel für eine Optimierung der eigenen Auswahlentscheidungen ist das bewusste Erhöhen der qualitativ geeigneten Bewerber. Ein Vorgehen nach dem Motto „viel hilf viel“ oder „je mehr Bewerbungen, desto mehr Auswahl, desto besser“ ist dagegen wenig hilfreich. Das Gegenteil ist der Fall, wie nachfolgende Grafik aufzeigen soll:

Wahrscheinlichkeit bei Personalauswahlentscheidungen die beste Wahl zu treffen
Quelle: eigene Darstellung

Die Anzahl der geeigneten Bewerbungen steigern

Die linke Teilgrafik zeigt den Optimalzustand. Schaffen Sie es, nur passende Bewerber anzulocken und zur Abgabe einer Bewerbung zu motivieren, so liegt Ihre Trefferquote bei der Personalauswahl bei 100%. Und zwar egal wie gut oder schlecht Ihre Methoden zur Auswahl sind. Das dürfte aber eher in den wenigsten Fällen realistisch sein.

Die Teilgrafik in der Mitte soll eine hälftige Verteilung von geeigneten und ungeeigneten Bewerbungen darstellen. Sie haben bei Ihrer Auswahl auch hier bereits über die statistische Wahrscheinlichkeit eine Erfolgsquote von 50%.

Die Verteilung rechts dürfte in den meisten Unternehmen vermutlich eher die Realität sein. Passt eine von 12 Bewerbungen, so liegt Ihre zufallsbedingte Erfolgsquote nur noch bei etwas über 8%. Die restlichen fast 92% müssen Sie selbst durch einen sehr hohen Qualitätsanspruch bei der Personalauswahl bezwingen.

Ungeeignete Bewerber abschrecken

Ja, das klingt extrem ungewohnt, ich weiß. Normalerweise haben wir immer mit Blick auf die Arbeitgebermarke den Wunsch, ein möglichst positives Bild als Arbeitgeber abzugeben. Trotzdem glaube ich, dass die beiden Ansprüche zusammengehen. Denn über Ihre Positionierung der Arbeitgebermarke sollten sie genaugenommen schon nur diejenigen potenziellen Bewerber ansprechen, die zu Ihnen und Ihrem Unternehmen passen. Leider funktioniert das in der Praxis aber wenig, wie ich im Beitrag „Warum klassisches Employer Branding ausgedient hat“ aufgezeigt habe.

Also müssen es wahrscheinlich doch die einen oder anderen eher abschreckenden Maßnahmen sein.

Abschreckung – aber bitte nur sehr gezielt

Die Kunst liegt wie so oft darin, das Richtige zu tun und gleichzeitig das Falsche zu lassen. Suchen Sie beispielsweise lediglich Bewerber mit Deutschkenntnissen ab B2 und sind Sie nicht willens oder in der Lage davon abzuweichen, sollten Sie sich ein Engagement auf stark internationalen Plattformen wie LinkedIn tatsächlich überlegen. Wenn Sie stattdessen im Ausland nicht in gleichem Maße bekannte Plattformen wie XING für Ihre Personalmarketing-Aktivitäten nutzen, ersparen Sie sich so manche im Ergebnis unpassende Bewerbung.

Spezialplattformen statt maximale Reichweite

Auch müssen Sie nicht auf jeder allgemeinen Stellenbörse oder in allgemeinen Hochschulmagazinen um möglichst hohe Reichweite buhlen. Beschränken Sie sich zielgerichtet. Werden Sie auf kleineren Spezialplattformen aktiv und nutzen Sie die Möglichkeiten einer besonders zielgruppenspezifischen Ansprache dort.

Die Personalauswahlentscheidungen von Grund auf verbessern

Meiner Meinung nach können Sie zwar mit den oben kurz erwähnten Methoden durchaus etwas für eine günstigere Quote erzielen. Letztlich geht es dann aber doch ans Eingemachte und Sie müssen Ihre Auswahlentscheidungen von Grund auf verbessern! Also fangen wir gleich mal mit den Tipps an.

Da viele Recruiter ihre erste Auswahl an sehr formalen Kriterien festmachen, beginne ich damit.

Häufige Irrtümer bei der Bewertung formaler Kriterien der Bewerbung

Tippfehler als Gewissenhaftigkeitsmangel?

Wer Bewerbungsunterlagen mit Schreibfehlern abgibt, ist nicht gewissenhaft. So lautet eine der gängigsten Schlussfolgerungen von Recruitern. Dabei ist mangelhafte Rechtschreibung eher ein Hinweis darauf, dass der Bewerber nicht fehlerfrei schreiben kann und niemanden zu Rate gezogen hat, der ihm bei der Korrektur hilft. Aber ist fehlerfreies Schreiben überhaupt für die jeweilige Stelle erfolgsrelevant? Schauen Sie genau hin!

Im Übrigen habe ich kaum ein Buch oder keinen Online-Beitrag gelesen, in dem nicht ebenfalls mindestens ein solcher Fehler enthalten war. Das nur am Rande bemerkt.

Aussagekraft der optischen Gestaltung der Bewerbung

Ich kann oft gar nicht glauben, was so alles geschrieben wird. Dass Recruiter bei postalisch zugestellten Bewerbungsmappen tatsächlich auf die Art der Briefmarke achten (Sondermarke als soziales Engagement?) oder die formal korrekte Adressierung, auf das verwendete Briefpapier sowie auf die Qualität des Briefumschlags? Aber was mag es nicht alles geben.

Nur der Vollständigkeit halber der Hinweis: Die meisten Bewerber gestalten ihre Mappen mittlerweile nach irgendwelchen Ratgebern oder verwenden Standards. Und damit liefern sie den Recruitern nunmehr Ansatzmöglichkeiten wildester beliebiger Spekulationen über deren Persönlichkeit und Arbeitsverhalten? Ist nicht Ihr Ernst?

Das Motivationsschreiben zur sozial erwünschten Selbstdarstellung

In vielen Bewerbungen wird das Anschreiben als notwendiger Bestandteil explizit gefordert. Wissenschaftler setzen dies mit einer direkten Aufforderung zur sozial erwünschten Selbstdarstellung gleich. Überspitzt könnte man sagen, dass der Bewerber quasi dafür belohnt wird, wenn er artig dem Arbeitgeber einzureden versucht, dass er der Beste für die ausgeschriebene Traumstelle sei.

Ich gebe zu, dass ich ein richtig und vor allem sinnvoll genutztes Anschreiben noch immer für eine großartige Möglichkeit der Einflussnahme auf die Wahrnehmung durch den Recruiter halte. Aber der obigen Argumentation kann ich mich trotzdem nur schwerlich entziehen.

Insofern ist es wohl auch eher naiv zu glauben, dass Bewerber beim Thema Stärken und Schwächen ehrlich sind und nicht nur den Tipps und Tricks der Ratgeber folgen und Standardantworten geben. Zum Beispiel die typische und zu 95% verwendete „Schwäche“ Ungeduld…

Häufige Irrtümer bei der Sichtung und Bewertung von Lebensläufen

Attraktive Bewerber werden systematisch überschätzt

Auch wenn es keiner zugeben will: Das Aussehen der Bewerber spielt in den meisten Fällen eben doch eine Rolle. Wenn auch unbewusst. So konnten die Wissenschaftler mittlerweile nachweisen, dass attraktive Bewerber beider Geschlechter systematisch überschätzt werden. Vielleicht nehmen Sie das zum Anlass, um das Bewerbungsfoto beim nächsten Mal nicht zu beachten oder erst ganz zum Schluss anzusehen.

Sportliche Aktivitäten verraten nichts über soziale Kompetenzen

Wie oft werden in Bewerbungstrainings Tipps gegeben, bestimmte Sportarten zu nennen, die einerseits einen Leistungsanspruch unterstreichen (z.B. Marathon) und eine Teamsportart (z.B. Handball). Personaler würden insbesondere Gemeinschaftssportarten mit hoher sozialer Kompetenz gleichsetzen. Tun sie wohl leider auch. Bringt aber nichts. Denn auch hier ist die Streuung zwischen den einzelnen Sporttreibenden so hoch, dass keine validen Rückschlüsse auf soziale Kompetenzen möglich sind. Gleiches gilt übrigens für die Häufigkeit sportlicher Aktivitäten, mal abgesehen von Leistungssportlern. Heute treiben nämlich so viele Menschen Sport, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass dadurch auf bestimmte Kompetenzen geschlossen werden kann.

Soziales Engagement ungleich soziale Kompetenz

Wer abends bei der freiwilligen Feuerwehr Einsätze trainiert, mit Kindergruppen durch den Wald läuft oder seine kranken Eltern pflegt, hat im Mittelwert übrigens auch nur geringfügig höhere soziale Kompetenzen. Es gibt einen Zusammenhang, er ist aber bei weitem nicht so stark, als dass dies eine Personalauswahl komplett tragen könnte.

Führungserfahrung zeugt nicht von guten Führungsfertigkeiten

So, jetzt kommt´s ganz Dicke: Es werden für anspruchsvolle Führungsaufgaben meist Personen gesucht, die bereits langjährige Führungserfahrung besitzen. Ihnen unterstellt man, dass sie Führungsneulingen überlegen sind mit dem mitgebrachten Erfahrungshorizont.

Nun ist es aber so, dass dies nur als Indiz wirkt, wenn tatsächlich solche Erfahrungen gesammelt werden konnten. Und dazu gehört zum Beispiel, dass die Geführten ehrliches Feedback gegeben haben und die Führungskraft darauf lernwillig und selbstreflektiert reagiert hat. Hört hört.

Studien zeigen sogar, dass erfahrene Führungskräfte in einer Potenzialanalyse zur Messung des Führungsverhaltens keineswegs besser abgeschnitten haben als junge Nachwuchsführungskräfte! Im Mittelwert geht Erfahrung also gerade NICHT mit Lerneffekten einher. Es ist auch nicht gesagt, dass Führungskräfte mit der Zeit nicht sogar schlechter werden oder der Erfahrungszuwachs stagniert. Aus den Bewerbungsunterlagen jedenfalls erkennen Sie nicht, um welche Kategorie von Führungskraft es sich beim Bewerber handelt.

Dauer der Berufserfahrung ungleich berufliche Leistung

Es gibt wissenschaftlich nur einen geringfügigen Zusammenhang zwischen der Dauer der Berufsausübung und der erbrachten Leistung. Unternehmen mit Entgeltsystemen, die eine langjährig gleiche Tätigkeit automatisch mit einer höheren Erfahrungsstufe würdigen, unterliegen dem selben gefährlichen Irrtum wie Personaler, die auf Grund mangelnder Berufserfahrung jüngere Bewerber voreilig aussortieren.

Viel aussagekräftiger ist die Vielfalt der Tätigkeiten, die in der Vergangenheit ausgeübt wurden. Denn stets die gleichen Aufgaben zu vollführen sorgt in der Regel für einen Lernstopp und bringt kaum noch Verbesserungen. Autsch!

Diversity unterliegt einem Deutungsirrtum

Immer wieder liest man, dass heterogen besetzte Teams aus Männern und Frauen besser performen als homogen besetzte. Dabei sollte sich aber mittlerweile herumgesprochen haben, dass dies nur für die Mittelwerte gilt. Die Streuung innerhalb der einzelnen Gruppen (Männer und Frauen) ist aber enorm, so dass dies nicht automatisch der Fall ist. Wählen Sie daher nicht nur aus diesem Grund einen Bewerber aus dem einen oder anderen Geschlecht aus – das Thema AGG mal ganz außen vor gelassen.

Es gibt viel zu ändern – fangen wir an!

Auch wenn ich an dieser Stelle noch viele weitere Beispiele aufzählen könnte, möchte ich es für heute erstmal damit bewenden lassen. Denn wenn Sie die oben genannten Tipps zur Verbesserung Ihrer Personalauswahlentscheidungen erstmal in Ruhe durchdenken und dann in der Praxis zukünftig anders handhaben, sind sie beschäftigt genug. Natürlich wollte ich Sie mit der Zusammenstellung keineswegs demotivieren. Im Gegenteil! Ist das nicht ein super Anlass, um im neuen Jahr weitreichende qualitative Veränderungen an den eigenen Personalauswahlentscheidungen vorzunehmen?

Wenn Sie dann noch wissen wollen, was Wissenschaftler stattdessen vorschlagen, empfehle ich Ihnen das aktuelle Buch von Prof. Dr. Kanning „Personalmarketing, Employer Branding und Mitarbeiterbindung“. Dieses Buch war mir übrigens auch eine Inspiration für diesen schon länger geplanten Blogbeitrag.

Ich drücke Ihnen die Daumen! Ein super erfolgreiches Neues Jahr 2018 für Sie und Ihr Recruiting!

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Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer (Personalmagazin 05/22) betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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