Warum die Digitalisierung gnadenlos überschätzt wird – Eine subjektive Bestandsaufnahme

Wie viele Beiträge haben Sie schon zum Thema Digitalisierung gelesen? Viele wahrscheinlich. In den meisten werden Ihnen vermutlich händevoll mahnender Zeigefinger entgegengestreckt worden sein, die Sie darauf hinweisen, dass Ihr Unternehmen in spätestens fünf Jahren Pleite geht, wenn Sie sich diesem unumkehrbaren Megatrend verweigern. Hab ich Recht?

In diesem Beitrag geht es mir nicht darum, zu beweisen was Ihnen und Ihrem Business im Rahmen der Digitalisierung tatsächlich widerfahren wird und was nicht. Ich gebe lediglich einen Einblick in meine praktischen Erlebnisse der letzten Tage und Wochen. Die Bewertung, ob die Digitalisierung tatsächlich überschätzt wird, überlasse ich Ihnen.

Häufig werden zum Beweis für die Notwendigkeit einer massiven Digitalisierung im HR-Bereich allgemeingültige Beispiele aus anderen Businessbereichen herangezogen. Insofern erlaube ich mir dies nun ebenfalls zu tun und berichte Ihnen, welche Erfahrungen ich mit vermeintlich durchdigitalisierten Partnern gemacht habe.

Aufgrund der Massivität innerhalb kürzester Zeit, kann dieser Beitrag Spuren von Ironie oder Sarkasmus enthalten – dies ist volle Absicht und muss(te) sein.

Bonussysteme – der Handel digitalisiert die Kundenbindung

Man kann über Bonussysteme denken wie man möchte. Wer regelmäßig bei einem Händler einkauft, der bezahlt den für die Durchführung von Bonussystemen wie Payback und Co einkalkulierten Produktpreis-Aufschlag so oder so.

Auch seitens des Datenschutzes macht es in meinen Augen wenig Unterschied, ob ein solches Bonussystem zusätzlich genutzt oder nur digital gezahlt wurde, zum Beispiel mit einer EC-Karte oder Kreditkarte. Ein persönliches Profil entsteht so oder. Und dass die Daten bei einem Zahlungsanbieter langfristig besser aufgehoben und geschützt sind, bezweifle ich. Das habe ich in meinem Beitrag Datenschutz ist tot bereits ausführlich dargestellt. Steigen wir mal langsam und sanft ins Thema ein.

Die nicht-kompatible digitale Payback-Karte

Die bereits genannte Payback-Karte ist vielerorts ein ständiger Begleiter. Allerdings nimmt sie zusammen mit anderen Plastikkarten eine Menge Platz in der Geldbörse weg. Gut, wer die Payback-App sein eigen nennt, denn dort ist seit einiger Zeit eine digitale Payback-Karte eingebaut. Und einen Bonus für die erste Nutzung dieser digitalen Karte gibt es obendrein. Zumindest theoretisch.

Digitale Payback-Karte anonymisiert
Digitale Payback-Karte anonymisiert

Denn eben jene Payback-Karte lässt sich bei einem Großteil der stationären Händler, zum Beispiel Rewe (der stets besondere Zusatzpunkteangebote offeriert und damit hochgradig Payback-affin ist), überhaupt nicht nutzen.

Der Grund: Der Kassenscanner kann den Barcode nicht lesen. Das führt dann dazu, dass die Kassiererin entweder die dargestellte Nummer genervt händisch eintippt oder man doch wieder zur Plastikkarte greift, die der Scanner kennt. Ist zwar auch digital irgendwie, aber anders. Nicht die 2,50 Euro entgangener Bonus ärgern mich am Ende, sondern die Tatsache, dass ich die Plastikkarte weiter nutzen muss oder einen manuellen Eintipp-Prozess auslöse (bei dem sich eine Kassiererin übrigens auch leicht mehrfach vertippen kann!).

Bei Müller nur Papier-Coupons

Auch die Drogerie Rossmann will sich modern zeigen und hat ihre eigene App, die unter anderem mit wertvollen 10%-Rabatt-Gutscheinen lockt. Die 78 MB Dateigröße der App sind auf einem 128 GB-Smartphone verkraftbar. Immerhin spart man sich die vielen unterschiedlichen kleinen Papiergutschein-Schnipsel.

Als ich bei meinem Einkauf in der großen Drogeriekette Müller einen großen Kunderstopper mit der Aufschrift „10% Gutscheine von Rossmann (…) gelten auch hier“ zum ersten Mal aktiv wahrnahm, freute ich mich. Raus das Smartphone an der Kasse und den QR-Code vor dem Bezahlvorgang hingehalten.

10% Rabatt-Code aus Rossmann-App anonymisiert
10% Rabatt-Code aus Rossmann-App anonymisiert

Die Kassiererin schüttelte jedoch gleich den Kopf. „Die können wir nicht scannen – ich brauche das in Papier!“. Bitte was? Soll ich den Code vorher ausdrucken? Gemeint war aber, dass der Code grundsätzlich nicht für den Scanner lesbar sei. Hatten wir das nicht schon? Erst war es der Barcode, der nicht ging, jetzt der QR-Code.

Ich blieb dran: Immerhin gibt es unter dem QR-Code in der App einen Button „Probleme beim Einscannen?“. Könnte man so sagen, ja. Nach dem Klick darauf erscheint eine Kundennummer eingeblendet – meine Kundennummer, die ich dem Personal in diesem Fall mitteilen solle. Was ich brav getan habe. Aber: Diese Kundennummer ist ein Rossmann-Kundennummer, mit der eine Müller-Filiale nichts anfangen kann!

Wir halten fest: Es gibt eine App mit einem 10% Coupon. In einem Laden wird genau dieser 10% Coupon zur Preisreduktion akzeptiert. Leider aber nur in Papier. Bei einem Einkauf von rund 60 Euro sind das immerhin sechs digital zu viel ausgegebene Euro.

Amazon-Punkte mit VISA bei Lidl

Ich liebe meine Amazon-VISA-Karte. Damit lässt sich leicht zahlen und ich sammle bei Amazon wertvolle Punkte. Überall. Insofern war ich freudig überrascht, dass mich diese Woche im Newsletter ein Hinweis auf einen Aktionszeitraum erreicht hat. Beim Einkauf und Bezahlen bei Rewe, Aldi, Lidl und Amazon innerhalb des Aktionszeitraums, winken insgesamt 10 Euro zusätzlich an Punkten. Nachdem ich fast direkt neben einer Lidl-Filiale arbeite und mein Auto teilweise sehr nahe abgestellt hatte, kaufte ich dort praktischerweise für wenige Euro eh notwendige Waren ein.

Statt der versprochenen 2,50 Euro Bonus gab es jedoch nur eine neuerliche Enttäuschung, denn die Kreditkarte wurde vom Kassensystem zurückgewiesen mit der Meldung „kein akzeptiertes Zahlungsmittel“. Zum ersten Mal nach 4 Jahren. Naja, VISA kennt ja auch kein Mensch! Und explizite Aktionszeiträume werden eh überschätzt…

Online Kundenportale – eine Fundgrube für digitale Kuriositäten

Heute gehört ein eigenes Online Kundenportal eigentlich zum guten Ton, vor allem für größere Anbieter. Mit einem eigenen Login… äh, ja, eigenes Login. Wo hab ich denn gleich das Passwort für dieses Portal wieder…?

Wer identische Passwörter hat, macht es sich zwar einfach, lebt aber gefährlicher. Also, mein Lieblingsklick auf „Passwort vergessen“ und schwups… äh, nein. Wie, kein Login mit der E-Mail-Adresse? Oh, Benutzername, ja. Dann nochmal Klick auf „Benutzername vergessen“. Wann kommt doch gleich die E-Mail? Eigentlich wollte ich doch nur kurz …

Kundenbereich Kreditportal auxmoney

Nehmen wir zum Beispiel mal meinen Test des Crowd-Kredit-Portals auxmoney. Das Portal bietet seinen Kunden oder Menschen, die es als Kunden gewinnen möchte, einen eigenen Login-Bereich an. Soweit so gut. In diesem Login-Bereich befinden sich jedoch lediglich rudimentäre Funktionen. Unmöglich ist es zum Beispiel, seinen Account komplett zu löschen (!) oder auch nur den Haken, der für die Zusendung von Werbung vorgesehen ist, aus dem Kontrollkästchen zu entfernen. Das ist nämlich komplett ausgegraut. Infotext bei Mausklick: Wenden Sie sich an die Hotline zu den Servicezeiten. Natürlich nur eingeschränkt tagsüber.

Selbst das Anpassen der eigenen Daten erlaubt das Portal nicht mit einem Hinweis, dass die Änderung derzeit „nicht vorgesehen“ sei. Ah ja. – Immerhin sei angemerkt, dass auch über eine E-Mail an den Support eine Änderung ausgelöst werden könne.

Man beachte: Ein Online Kundenportal mit Selfservice benötigt einen schriftlichen Auftrag an einen Menschen im Support, der dann händisch tätig werden muss. Schon klar. Ihr habt das mit der Digitalisierung echt verstanden!

TV NOW – Widerruf bei einem Online-Streamingdienst

Sie sind schon schockiert? Ach was, wir setzen einfach nochmal einen drauf. Was würden Sie zum Beispiel bei einem von RTL betriebenen Online-Streaming-Dienst erwarten, wenn sie den kostenlosen Probemonat Live-TV innerhalb von 14 Tagen widerrufen möchten…?

In der Buchungsbestätigung via E-Mail sendet Ihnen die RTL Interactive GmbH ein Muster-Widerrufsformular zum Ausdruck mitten im Mailtext. Warum kein PDF? Na klar, Sie müssen ja selbst noch die nicht passenden Formulierungen streichen. Und unterschreiben. Und dann scannen. Und es kostenpflichtig mit der Post schicken. Oder Faxen. Immerhin geht letzteres digital am PC.

Muster-Widerrufsformular von RTL TV NOW in Bestätigungsmail
Muster-Widerrufsformular von RTL TV NOW in Bestätigungsmail

Digital ist kein Allheilmittel

Auch wenn einige von Ihnen sich insgeheim jetzt denken: „Selbst schuld, was nutzt er auch für Zeugs!“. Ich könnte genauso gut berichten von den (zu) häufigen Abstürzen des mobilen Zugangs zum web.de-Mail-Portal, das ich sogar als kostenpflichtiger Premium-Kunde nutze, dem Crash von XING heute, als ich es gebraucht hätte, dem Nicht-Funktionieren von WORDPRESS-Plugins, dem allgegenwärtigen Ärger mit Windowssystemen (seit ich meinen ersten PC habe), nicht-verstehenden Telefonhotline-Computern großer Anbieter, abstürzenden Reiseportal-Seiten, festhängenden Paypal-Bezahlvorgängen, leider gerade nicht einsatzfähigen Kundendaten-Systemen bei Hotlines großer Mobilfunkanbieter und vielem mehr… Es passiert jeden Tag!

Ein bunter Reigen voller Themen, bei denen man anschließend genervt ist und schlimmstenfalls tagelang „hinterherkehren“ muss.

Digital ja, aber bitte zu Ende gedacht!

Und jetzt stehe ich sogar noch auf der Pro-Digitalisierungsseite, das sei nur nochmal angemerkt! Aber manchmal ist es trotzdem zum Verzweifeln, wie undurchdacht und unausgereift selbst die Lösungen sehr großer Anbieter sind.

Ja, Digitalisierung ist mehr als nur Technik, ich weiß, aber hier wollte ich bewusst nur den technischen Aspekt als Verbraucher beleuchten. Insofern hätte der Beitrag auch „Die Tücken der Technik“ heißen können oder vielleicht: „Warum die Digitalisierung gnadenlos unterschätzt wird“.

Also: Wehe einer schimpft nochmal auf HR und meint, dass Personaler der Digitalisierung hinterherhinken. Ich sag nur: Besser machen!!


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Stefan Scheller

Autor und Speaker Persoblogger Stefan SchellerMein Name ist Stefan Scheller. In meiner Rolle als Persoblogger und Top HR-Influencer (Personalmagazin 05/22) betreibe ich diese Website und das gleichnamige HR Praxisportal. Vielen Dank für das Lesen meiner Beiträge und Hören meines Podcasts Klartext HR!

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DANKE!

4 Antworten

  1. Zu sagen, dass Digitalisierung gnadenlos überschätz wird, finde ich schwierig. Wie lange ist es denn her, dass Rechenleistung und Speicherplatz kein nennenswertes Problem mehr ist? Vielleicht seit 10, maximal 20 Jahren? In diesen Jahren hat sich enorm viel in rapidem Tempo verändert. Natürlich funktioniert das noch nicht perfekt, aber wir stehen gerade erst am Anfang. Was Digitalisierung in Unternehmen und in der Arbeitswelt in den nächsten Jahrzehnten verändern werden, ist noch nicht absehbar, weil die Erfahrungen fehlen. Ich habe beruflich am Rande mit dem Thema zu tun und bin demnächst auf auf einem Kongress der Akademie3 zum Thema Digitalisierung und Wirtschaft 4.0, die Vorträge versprechen einige neue Informationen für mich. Ich glaube, die meisten Menschen haben schon bei aktuellen Entwicklungen Schwierigkeiten auf dem Laufenden zu bleiben. Und schon deshalb ist es unmöglich vorherzusagen, wohin die Reise noch gehen wird. Ich würde sagen, es ist und bleibt ein spannendes Thema!

    1. Lieber Heinz G.,
      da sind wir beisammen. Der Titel ist natürlich eine zugespitzte Aussage. Selbstverständlich bin ich der Ansicht, dass die Digitalisierung radikal und aus dem Blickwinkel tradierter Geschäftsmodelle auch gnadenlos zuschlagen wird. Nur manchmal stößt man an der einen oder anderen Stelle dann auf zu viele Fehlfunktionen und merkt, dass nicht die Technik der begrenzende Faktor ist. Sondern der Mensch.
      In diesem Sinne wünsche ich weiterhin gute Erkenntnisse.
      Herzliche Grüße
      Stefan Scheller

      1. Dass Titel neugierig auf den Artikel machen müssen, verstehe ich. So bin ich ja auch auf den Text gestoßen, weil mich das Thema interessiert und ich wissen wollte, welche für mich neuen Aspekte angesprochen werden. Eben weil man durch kritische Auseinandersetzungen mit Themen am meisten dazu lernen kann. Vielen Dank für die Wünsche und ebenfalls freundliche Grüße!

  2. Hallo Herr Scheller,

    vielen Dank für diesen Beitrag! Ich könnte da noch aus eigener Erfahrung endlos ergänzen, was alles herauskommt, wenn fehlerhafte Menschen fehlerintolerante Maschinen programmieren. Ich darf das so sagen, denn ich habe selbst ein halbes Berufsleben in der IT gearbeitet. Zu erkennen, die Sache wird so komplex, daß sie irgendwann nicht mehr beherrschbar ist, war für mich ein Grund (wenn auch nicht der einzige), aus der IT auszusteigen und mich der Arbeit mit dem Menschen zu widmen, der zwar ein noch komplexeres „System“ ist als der Computer, aber dafür ein fehlertolerantes.

    Einen ernsten Hintergrund hat das Ganze: Das Weißbuch „Arbeiten 4.0“ spricht vom „Produktivitätsrätsel“, wenn es feststellt, daß wir zwar digitalisieren, was das Zeug hält, aber die Produktivität seit dem Jahrtausendwechsel nicht mehr steigt. Das Weißbuch vermutet darin einen vorübergehenden Effekt, aber andere Stimmen weisen darauf hin, daß der Umgang mit der VUCA-Welt, die uns die Digitalisierung „eingebrockt“ hat, grundlegend menschliche, „analoge“ Kompetenzen erfordert, die neben „Null“ und „Eins“ auch „ein Bißchen“, ein „vielleicht“ oder ein „weiß nicht“ zulassen. Die Welt ist nicht nur schwarzweiß, sondern überaus bunt! Deshalb: Digitalsierung ja, aber mit Augenmaß – und nicht um ihrer selbst willen, sondern mit dem Menschen im Zentrum.

    Viele Grüße
    Reimar L.

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